Geschrieben von: Werner Keichel:

Geschichten aus Ostpreußen

Ich war dabei ...

Mein Großvater Emil Keichel hatte in Schugsten eine Gutskneipe - Gaststätte mit Ausspann, auf halbem Wege zwischen Königsberg und dem großen mondänen Badeort Cranz an der Ostsee, am Zipfel der Kurischen Nehrung. Dieses Lokal, genannt "Gasthaus zum Seehund" ernährte die kinderreiche Familie bis zu dem Zeitpunkt, als die Eisenbahn von Königsberg in das Samland nach Cranz, Rauschen und Pillau gebaut wurde. Es fuhren keine Kutschen mehr, man war auf die schnellere, komfortablere Bahn umgestiegen. Man erreichte die Seebäder in ca. 30 Minuten.

Emil Otto Keichel, 1929
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So entschloß sich Großvater eine Gaststätte mit Pension, Ausspann und einer kleinen Landwirtschaft in Rantau etwa 1 km von der Küste entfernt, zu erwerben. Dies war der "Samländer Hof". So stand es am Eingang zum Gartenlokal auf einem Bogen geschrieben. Herrliche Linden standen dort, in deren Schatten die Gäste, die Urlauber oder Sommerfrischler saßen. Es war ein beliebtes und gern besuchtes Lokal auch von den Gästen aus Neukuhren oder Cranz oder anderen Orten, die an der steilen Samlandküste, der deutschen Bernsteinküste spazieren gingen - wanderten.

Von den 12 Kindern überlebten 10 und groß wurden so: Bernhard wurde Sparkassendirektor in Memel, Erna, Albert (mein Vater), Margarete, Liesbeth heiratete nach Lankuppen im Memelgebiet in einen großen Bauernhof, Charlotte heiratete einen Gastwirt in Friedland (Bahnhofslokal), Fritz das fast schwarze Schaf der Familie war überall und ich lernte ihn als LKW-Fahrer, immerhin für die damalige Zeit, kennen, Hans lernte Bäcker war viele Jahre tätig in einer Großbäckerei und nach dem Kriege im Ruhrgebiet in einem großen Baubetrieb, Ernst war Kaufmann, sie wurden alle in Schugsten geboren. Nur Paul 1910 und ich wurden in Rantau geboren. Wir waren wie man sagte, die Rantauer Bowke's.

Bevor es aber zur Lichterblickung meinerseits kam, mussten sich erst einmal meine Eltern dazu finden. Wie es dazu kam habe ich nie erfahren. Nur Tante Lotte meinte dazu an ihrem 96. Geburtstag, dein Vater hatte doch ein Mädchen aus Nemonien. Obwohl ich bei meiner Geburt am 25.06.1932 dabei war, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Getauft hat man mich in der Nachbargemeinde Pobethen. Man gab mir den Namen Emil Georg Werner. Eine schöne Tradition, es sind die Namen meiner Großväter. In den schweren 20'er und 30'er Jahren war mein Vater teils in Königsberg, er hatte Kaufmann gelernt, teils bei seinem Vater im Gasthof beschäftigt. So kam es sicherlich dazu, dass wir zunächst in Rantau waren. Vieles änderte sich schlagartig, als Großvater verstarb und alle oder keiner die Wirtschaft weiter führen sollte oder wollte. Jedenfalls, jeder wollte so seinen Anteil haben und durch 10 geteilt, kann sich jeder ausrechnen was übrig bleibt. Dieses schöne Anwesen wurde durch Uneinigkeit und Habgier zerstört. Es wurde verkauft und wir zogen nach Königsberg.

Von diesen vielen Tanten und Onkels habe ich im Laufe der Jahre, noch vor Kriegsende, in Ostpreußen kennen gelernt. Nur 5 haben den Krieg überlebt, es waren die jüngeren, wie Lotte, Fritz, Hans, Ernst und Paul. Alle anderen sind verschollen im Kriegsgewirr, niemand weiß, wo sie und ihre Familien geblieben sind.


Meine erste Erinnerung

Mitten in das Zentrum von Königsberg, der größten Stadt Ostpreußen, in der die Könige Preußen gekrönt wurden, zogen wir. Das Geld war knapp und Arbeit gab es auch nicht so ohne weiteres. Also nahmen meine Eltern ein großes Zimmer, in dem Wohn- und Schlafmöbel räumig Platz hatten, in Untermiete bei Oltersdorf, Insel Venedig 4. Ein schöner, romantischer Name. Aber ganz so war es nicht, es war ein Haus aus der Gründerzeit, unser großes Zimmer lag im Erdgeschoß an der Straßenseite. Für mich war es sehr schön, wir hatten dort richtigen Familienanschluß, denn Oltersdorf waren selber auch eine große Familie. Man nutzte alle wirtschaftlichen Einrichtungen, wie Küche, Bad, Toilette und auch Keller gemeinsam. Heute würde man schon von einer Kommune reden. Jedenfalls hatte das enge Beisammensein der Familie auch seine Folgen und mein Bruder hatte sich angekündigt. Ein großer Aufstand war im ganzen Haus, als erstes wurde ich aus dem Zimmer geschickt und meine Mutter musste alleine im Bett bleiben. Es war eine große Geschäftigkeit, laufend kam jemand heraus oder ging hinein. Plötzlich eine Erlösung. Man offenbarte mir, ich hätte jetzt ein Brüderchen und dieser Tag ist bis heute mein erstes Erlebnis an das ich mich erinnern kann. Sehr aufgeregt war ich und stürmte hinaus, um jeden diese Kunde darzutun. Auf jeden Fall wollte ich sofort mit ihm Pferdchen spielen, was natürlich nicht ging. Aber ich durfte wieder ins Zimmer und alles in Augenschein nehmen. Ich habe diesen frohen und glücklichen Gedanken als ersten bis heute in meiner Erinnerung bewahrt.

Mein Vater ging derweil nur wenige Straßenzüge weiter zu seiner Arbeit. Er war Expident (Auslieferer vom Lager) in der größten und einzigen Marzipanfabrik Jazannbowsky Ostpreußen beschäftigt. Also in der berühmten Königsberger Marzipanfabrik. Auch nur wenige Straßenecken von uns entfernt stand die Königsberger Bernsteinmanufaktur, die heute noch steht.

Unsere Straße war nicht so sehr belebt, weil auf dem westlichen Ende in einiger Entfernung Bahnanlagen waren mit der großen Brücke über dem Pregel und auf der östlichen Seite das pulsierende Leben mit all dem was damals sich auf den Straßen bewegte, wie Gespannfahrzeuge, Autos, Radfahrer, Straßenbahnen usw. In den anliegenden Nabenstraßen gab es schon Lager, Büros, Hafen und alles was dazu gehört. Der Pregel, der Fluß durch Königsberg war nur um die nächste Straßenecke. Mich muß eines Tages etwas geritten haben, als ich diesen Verkehr sah. Fühlte ich mich bedroht? Ich kann es nicht sagen. Ein Stein kam in meine Hand und flog gegen einen PKW. Die Scheibe blieb zwar ganz, aber ein wütender Fahrer hat mich verfolgt und ordentlich durchgeschüttelt.

Den ersten Verkehrstoten konnte ich auch an der Straßenecke sehen. Ein Mann muß wohl aus Unachtsamkeit auf die Straße gegangen sein und dabei von einem Auto erfasst, er war so richtig breit gefahren worden. Eine große Blutlache war zu sehen und viele Menschen standen darum herum, zu helfen gab es aus meiner Sicht wohl nichts, denn es regte sich nichts mehr. Auch eine Sache die mich lange beschäftigt hat.

So vergingen die Jahre, mein Brüderchen lernte laufen und so konnten wir den Vater ab und an von der Arbeit abholen. Natürlich gab es dann immer Leckereien.

Familie Oltersdorf habe ich nach dem Tode meiner Mutter in den 50'er Jahren in Bitterfeld besucht. Meine Mutter hatte immer Kontakt gehalten. Beide waren schon hoch betagt in den 90'er Jahren. Meine Anreise dorthin war eigentümlich. Auf dem Bahnhofsvorplatz habe ich einen älteren Mann nach dem Weg befragt, wo ist die "Straße der Republik". "Die ist dort hinten rechtsrum und wenn diese Straße nicht mehr weitergeht, dann beginnt die Straße der Republik". Als ich diese Episode im Kollegenkreis erzählt habe, waren die Genossen nicht sehr erfreut.


Zu Hause

Am Stadtrand in der südlichen Vorstadt Ponarth wurden neue Häuser gebaut. Meine Eltern haben sich bemüht und erwarben eine Wohnung in der Barbarastr. 123. Es war ein Eckhaus und wir hatten auf der Straßenseite Küche, Toilette und nach hinten Wohnzimmer und Schlafraum. Egal wo man hinausschaute auf beiden Seiten war Grün und sogar die freie Landschaft sichtbar. Eine ganz andere Welt besonders für uns Kinder, mit dem um die Ecke gelegenen großen Park und dem Schwanenteich.

Den Umzug besorgten meine Eltern und wir Kinder verblieben noch in der Stadt, damit wenn wir kommen schon einiger maßen Ordnung herrscht. Es war ein schöner warmer sonniger Tag im Jahre 1938 an dem es hieß Abschied zu nehmen und in das neue Zuhause aufzubrechen. Mein Bruder und ich waren schon angezogen und fein gemacht. Meine Mutter, wie bei Frauen so üblich, hatte noch dieses und jenes zu verrichten und zu erzählen. Mir war das Ganze schon langweilig, so nahm ich meinen Bruder an die Hand und wir brachen auf. Den Weg kannte ich ja, immer den Straßenbahnschienen entlang bis ins neue Heim. Als meine Mutter vor die Tür trat, waren wir nicht da. Es begann eine große Suchaktion doch ohne Erfolg. Meine Mutter fuhr hin und her, bis schließlich der Vater nach Hause kam. Was tun? Also Vater blieb zu Hause und Mutter brach auf, um noch zu suchen. Wie ein Wunder sie biegt um die erste Straßenecke und wer kommt entgegen?

Die Zeit verging und es war Zeit, dass der Werner zur Schule gehen sollte, doch eine schwere Krankheit warf mich zurück. Den Schulanfang habe ich verpasst, aber nächstes Jahr besteht ja auch noch die Möglichkeit. Mit 7 kam ich zur Schule. Der erste Schultag ein hohes Erlebnis. Wie alle Anfänger wurde man in der Volksschule eingeschult. Unsere Schule hatte den schönen Namen Pestalozzi, was mir später fast zum Verhängnis wurde. Der Lehrer den wir hatten war ein ganz junger, vielleicht war es seine erste Klasse und er wollte uns besonders fesseln, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Übereifrigkeit wurde ihm gleich am ersten Tag zum Verhängnis. Was hatte er gemacht? Zeichnen, Malen waren sicherlich seine Leidenschaft und so malte er unter unserer Anteilnahme zunächst an die Tafel das Märchen von Hänsel und Gretel. Da die Tafel nicht ausreichte für dieses großartige Märchen, waren bald auch die Wände links und rechts mit Kreide vollgemalt. Plötzlich ging die Tür ....

(Leider Ende des Textes)


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